Die verheerenden Folgen des Kolonialismus sind ja hinlänglich bekannt. Doch dass sich lange bevor sich europäische Mächte den Kontinent mit willkürlichen Grenzziehungen aufteilten das Weltgefüge durch den Sklavenhandel radikal und zu Gunsten Europas veränderte, hat mir erst das Buch „Afrika und die Entstehung der modernen Welt“ von Howard W. French so richtig vor Augen geführt.
Die Europäische Moderne auf dem Rücken Afrikas
Was man aus dem Geschichteunterricht bruchstückhaft (und natürlich nur aus eurozentristischer Sicht) kennt, führt French anschaulich, akribisch und mit neuesten Studien belegt wirkungsvoll zu einem großen Ganzen zusammen. Seefahrerische Entdeckungen, europäischer Forscherdrang, das Zeitalter der Aufklärung und die Errungenschaften der Moderne: Der afroamerikanische Journalist argumentiert, dass all dies nur möglich war, indem zuerst afrikanisches Gold, doch sehr bald entführte und verschleppte Menschen als Arbeitskräfte Europas wichtigstes Kapital auf dem Weg zur Moderne wurde.
Big Business Sklavenhandel
French zeichnet die Geschichte ab den ersten Kontakten zwischen Europa und Subsahara-Afrika seit dem 15. Jahrhundert detailliert nach: Gab es in den anfänglichen Handelsbeziehungen zwischen Europa und Afrika noch Warenaustausch, verlegte sich die europäische Nachfrage rasch auf „Manpower“ zur Bewirtschaftung der Neuen Welt. Eine Nachfrage, der lokale Profiteure durchaus nachkamen: In den knapp 400 Jahren des transatlantischen Sklavenhandels wurden ca. 12 Millionen Menschen in die Karibik, nach Brasilien und Amerika verkauft. Wenn man bedenkt, dass das nur diejenigen sind, die die Gefangennahme und Überfahrt überlebt haben (Schätzungen gehen davon aus, dass dies nur ein Viertel der tatsächlich Verschleppten darstellt), kann man sich vorstellen, welche demografische Lücke dies auf dem Kontinent hinterlassen hat. Arbeitskräfte, die vor Ort gefehlt haben, um Fortschritt zu erlangen.
Wohlstand – Bürgertum – Aufklärung – Industrialisierung
Der mit der Plantagenwirtschaft erlangte Wohlstand förderte in Europa die Urbanisierung und die Entstehung eines Bürgertums, das Rechte einforderte und sich emanzipierte. French hat hier einen äußerst spannenden Gedanken: Durch die in der Neuen Welt (mit Sklaven) erzeugten Nahrungs- und Genussmittel (Zucker, Tee, Kaffee) veränderte sich auch die Ernährung in Europa: Sie wurde kalorienreicher und aufgebrühte (aufputschende) Getränke ersetzten Bier und Wein. Das führte auch in Europa zu einer Leistungssteigerung und mehr „Klarheit im Kopf“. Es ist also nicht nur wie gern verbreitet der europäischen intellektuellen Überlegenheit geschuldet, dass die Aufklärung in unseren Breitengraden ihren Ausgang nahm. Und auch den Mythos Industrialisierung rückt er zurecht: In den hocheffizienten Zuckermühlen, in denen landwirtschaftliche und industrielle Welt zusammentrafen, waren schon deutlich vor den europäischen Fabriken industrielle Praktiken in Form von Arbeitsteilung, Spezialisierung und Synchronisierung zu erkennen. Die Arbeitsleistung der Sklaven wurde permanent durch noch mehr Ausbeutung maximiert. Diese enorme Produktivität stellte Europa auf eine neue Grundlage.
Dies sind nur einige Gedanken aus dem 500 Seiten starken Werk, das zu lesen sich auf jeden Fall lohnt. French führt uns durch Jahrhunderte transatlantischer Geschichte samt ihren wichtigen Wechselwirkungen zwischen den Kontinenten – nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in „geistiger Hinsicht“. Denn die Ideen der Aufklärung und Gleichberechtigung fanden sehr wohl auch ihren Weg in die von Sklaverei geprägten Gesellschaften und mündeten auch dort in Aufstände und – wie der Fall Haiti zeigt – in eine der ersten Republiksgründungen in der westlichen Hemisphäre.
Die Rolle Afrikas richtigstellen
Howard W. French möchte mit seinem Buch aufzeigen, dass unsere Geschichtsschreibung seit Jahrhunderten die Rolle Afrikas falsch erzählt und Afrikaner systematisch aus der Erzählung von der modernen Welt trivialisiert, auslöscht und ihre Leistungen schmälert. Und dass die „Überlegenheit“ Europas nicht auf „irgendwelchen angeborenen oder dauerhaften europäischen Eigenschaften“ beruht, sondern auf dem „Fundament der ökonomischen und politischen Beziehungen zu Afrika“ aufbaut. Und er möchte den Krieg dokumentieren, der gegen Schwarze Menschen geführt wurde, indem man sie jahrhundertelang versklavte, ausbeutete und unterwarf. Nicht zuletzt plädiert er dafür neu darüber nachzudenken, wie wir die Welt beschreiben und die zentrale Rolle Afrikas dauerhaft sichtbar machen.