Die erste Ausgabe des neuen „Muslimischen Magazins für Kultur und Gesellschaft“ QAMAR ist soeben in Wien erschienen. Das musste ich natürlich sofort auf http://qamar-magazin.at abonnieren. Ein paar Tage später hatte ich es im Postkasten – und schon das Auspacken aus dem Kuvert war ein haptisches Erlebnis: Hochwertiges Papier, ein unheimlich ästhetisches Cover mit toller Farbgebung, sauberes Design, perfekte Größe. Doch nicht nur das Erscheinungsbild, sondern auch der Inhalt besticht durch Qualität.
Es ist höchste Zeit, Musliminnen und Muslimen zuzuhören
Dieser Satz ziert das Cover der ersten QAMAR-Ausgabe. Und sie haben so einiges zu sagen! Ich bin fasziniert von der Themenvielfalt und den portraitierten Persönlichkeiten des Magazins. Einige Themen waren für mich nicht neu, wie zum Beispiel die Diskriminierung von Muslim:innen am Arbeitsmarkt, die fehlende Diversität in Österreichs Medienlandschaft oder das Problem der Wahlrechts-Inklusivität in Österreich, mit der ich mich ja auch im meiner Masterarbeit bzw. diesem Blog-Eintrag beschäftigt habe. Und trotzdem waren es neue Facetten, ungewohnte Zugänge und weitere Perspektiven, die ich dazu gewinnen durfte. Besonders spannend fand ich Einblicke und Zugänge in Lebenswelten, die ich bis jetzt noch nicht hatte: Der muslimische Gefängnis-Seelsorger Džemal Šibljaković schildert seine Aufgabe als Zuhörer und Vertrauensperson. Das Berliner Fashion-Model Nadia Sadé Itani erzählt über Diskriminierung und Politisierung im Model-Bereich und warum sie „Blackhead Concepts“ gegründet hat. Die Psychologin Hatice Budak beschreibt, wie sich die Akzeptanz von Psychotherapie in der muslimischen Community verändert. Lyrikerin Elona Beqiraj erlaubt mit ihren berührenden Gedichten einen Blick in die Innenwelt der zweiten Zuwanderer-Genration. Und vieles mehr – auf über hundert gut geschriebenen und ansprechend illustrierten Seiten.
Erhellender Perspektivenwechsel zu abendländischen Narrativen
Verblüffend und erhellend zugleich waren für mich zwei Artikel, die sich aus ungewohnter Sicht an zwei „Heiligtümer“ unserer Geschichte und Philosophie annähern: Der Philosoph Fahim Amir zeigt Immanuel Kants Einstellung zum Islam und zu Muslimen auf, die in zahlreichen Anmerkungen in dessen Schriften sichtbar wird. Eine Einstellung, die durchaus nicht der Vernunft und Rationalität entspricht, die man bei diesem aufgeklärten Denker erwarten sollte. Ein pointierter Beitrag zu der Diskussion, wer denn hier Bedarf an einer Aufklärung basierend auf Toleranz, der Gleichheit aller Menschen und vernunftgeleitetem Denken hat. Und der Rechtshistoriker Rijad Dautović demontiert mit historischen Fakten die Mähr, dass unser über 100 Jahre altes Islamgesetz im Geiste von Toleranz und Gleichberechtigung entstanden ist. Im Gegenteil, schon damals wurde mit dem Argument des „politischen Islams“ versucht die muslimische Selbstbestimmung zu verhindern und ihre offizielle Anerkennung als Glaubensgemeinschaft zu erschweren – die erfolgte erst 1979. Diese Beiträge sind für mich ein Beweis dafür, dass es nie eine „single story“ gibt und dass es gut tut, die eigenen Narrative auch aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Mehr davon, bitte!
Das große ABER…
Ich finde es großartig, dass sich etwas tut in der Medienlandschaft. Es war längst überfällig, dass Communities aktiv werden und nicht mehr andere über sie erzählen lassen, sondern selber erzählen. Dass sie das Heft in die Hand nehmen und uns diesen Blickwinkel servieren, der uns fehlt. Auf hohem Niveau, mit Selbstbewusstsein und Kreativität. Mit diesem Magazin wird ganz eindeutig eine gebildete, interessierte und offene Elite angesprochen. Die ja per se schon aufgeschlossen und multiethnisch unterwegs sein sollte… aber vielleicht doch nicht ganz? Möglicherweise sind es genau die, die in den Chefetagen und Chefredaktionen sitzen und das nächste Mal zwei Mal nachdenken, bevor sie einen Job vergeben? Die in der Kreativbranche tätig sind und bei der nächsten Kampagne und beim nächsten Shooting vielleicht doch neue Wege gehen? Die als Medienmacher:innen in Zukunft vielleicht auch neue Expert:innen vor den Vorhang holen? Die an gesellschaftlichen Schlüsselpositionen sitzen und an die Inklusion und Mitsprache aller erinnert werden? Ich hoffe es, denn dann erreicht Qamar genau das, was notwendig ist – und bis dahin wünsche ich mir noch viele bereichernde und spannende Ausgaben davon.
Und doch… Ist es nicht ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft, dass es solche Magazine überhaupt braucht…? Wie seht ihr das?