Beobachtest du noch oder bewertest du schon?

Mai 3, 2023Gedank:innen zur Vielfalt0 comments

Wir Menschen befinden uns in einem Dauerbewertungsmodus. Wir glauben zwar, dass wir ach so objektiv sind. In Wahrheit macht unser Gehirn nichts anderes als tagein tagaus Schubladen auf und zu. Das ist ja durchaus auch sinnvoll und überlebensnotwendig.  Doch wir sind so daran gewöhnt, permanent zu beurteilen, dass wir uns oft schwertun, unsere Bewertung von der zugrundeliegenden Beobachtung zu trennen.

Beispiele gefällig?

Nehmen wir z.B. „Katrin ist traurig“. Ist das eine Beobachtung oder eine Bewertung? Die Meinungen gehen hier regelmäßig auseinander. „Natürlich ist das eine Beobachtung. Ich sehe ja, wenn sie traurig ist und weint oder die Mundwinkel nach unten zieht“, sagen die einen. „Nein, das ist eine Bewertung“, sagen die anderen. „Denn sie kann ja auch weinen, weil sie Zwiebel schneidet. Oder den Mund verziehen, weil ihr ein Zahn gezogen wurde.“ Hm, leuchtet ein. Doch wie kann ich feststellen, ob Katrin wirklich traurig ist? Indem ich meine Beobachtung mit ihr teile und sie frage!

Ein anderer Satz, der immer zu hitzigen Diskussionen führt, ist die banale Feststellung: „Draußen ist schönes Wetter“. Und auch hier scheint es eine gesellschaftliche Übereinkunft zu geben, was „schön“ bedeutet. Die Menschen, die sagen: „Aber ich liebe Regen. Für mich ist Regenwetter schön!“ oder „Schön ist nicht messbar, das ist eine Bewertung“ werden schnell von den anderen überstimmt. „Bei der Wettervorhersage im Radio sagen sie das ja auch!“, kommt dann oft als Argument. Darum habe ich dann ganz genau hingehört im Radio. Und siehe da: gar nicht wahr! Von Nebel, Wolken, Sonne oder Regen ist da die Rede. Es werden Temperaturen genannt, Windstärken angegeben und Wetterphänomene beschrieben. Aber was glauben wir bei: „Heute ist es wolkenlos, die Sonne scheint und es hat 25 Grad“ zu hören? „Draußen ist schönes Wetter“!

Geht’s auch ohne?

Und ich denke mir: Wenn es uns schon mit dem Wetter schwerfällt, wie schwierig wird es erst, wenn es um Menschen geht? Die gute Nachricht: Sich der eigenen Bewertungsbrille bewusst zu werden ist schon der erste Schritt, um sie hie und da auch ablegen zu können.

Dieser Text erschien leicht adaptiert als „Vielfaltskolumne“ in der Salzburger Straßenzeitung Apropos im Mai 2023.

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