In der Theorie wusste ich es ja… und auch der eine oder andere Urlaub in Südeuropa lässt einen hineinschnuppern in unterschiedliches Zeitempfinden. Doch wie wohltuend ein Ausflug in die „polychrone“ Welt sein kann, durfte ich die letzten Wochen in einem afrikanischen Land erleben.
Polychrones versus monochrones Zeitempfinden
Poly-wie-bitte? Polychron – diesen Ausdruck prägte der britische Kulturwissenschaftler Stuart T. Hall in seiner Beschreibung der Einstellung zur Kategorie Zeit in verschiedenen Kulturen. In monochronen Kulturen, zu denen auch Österreich gehört, betrachtet man Zeit als begrenztes Gut. Folglich muss man mit Zeit sparsam und effizient umgehen, Pläne und Fristen einhalten, Aufgaben der Reihe nach abarbeiten und darf ja keine Zeit vergeuden. Klarerweise führen Verspätungen und Absagen dann auch zu Frust und Ärger.
In polychronen Gesellschaften wird Zeit als immaterielles Gut gesehen, das praktisch unbegrenzt vorhanden ist. Der Mensch muss sich nicht an die Zeit anpassen, denn morgen ist auch noch ein Tag. Insofern kann man auch ruhig mehrere Handlungen parallel durchführen und bleibt bei Unterbrechungen oder spontanen Veränderungen flexibel. Die Qualität der Beziehungen ist wichtiger als das strikte Verfolgen eines Zeitplans, Verspätungen werden toleriert.
Zeit haben füreinander
Und bald verstanden wir, warum ein Vorhaben am Tag völlig ausreichend war: Auch wenn man bei jemandem „nur“ zum Essen eingeladen war, bedeutete das, gemütlich gemeinsam zu kochen, herzurichten, zu plaudern, zu essen, zu lachen, was sich über Stunden hinziehen konnte. Auch war es nicht so wichtig, wann man tatsächlich aufkreuzte. Nicht selten kam noch irgendjemand vorbei, brachte etwas, holte etwas, setzte sich dazu, ging wieder… und man nahm sich für alle Zeit. Oder der Weg zum Markt, der theoretisch in zehn Minuten zu erledigen wäre. Praktisch trifft man aber alle paar Meter jemanden, unterhält sich, wird hineingebeten, und hat zahlreiche Begegnungen und Gespräche, auf die man sich gern einlässt.
„Die Zeit gehört uns“
Am deutlichsten formulierte es ein einheimischer Freund, der mit uns einen Ausflug machte, der viel länger dauerte als vorgesehen. Denn es war selbstverständlich, bei allen Leuten, die man am Weg kannte, vorbeizuschauen, an zufällig entdeckten netten Plätzchen zu verweilen und nicht mit Blick auf die Uhr zur Weiterfahrt zu drängen. Als wir uns dafür bedankten, dass er so lange mit uns unterwegs war, meinte er einfach nur: „Die Zeit gehört uns, und nicht wir ihr! Und das unterscheidet uns von euch.“
Wie recht er hat! Denn sind in Wahrheit Beziehungen nicht wirklich wichtiger als die erledigte To-Do Liste? Mal sehen, ob sich diese Erfahrung in unser Zeitmanagement integrieren lässt…
Dieser Text erscheint als „Vielfaltskolumne“ in der Salzburger Straßenzeitung Apropos im Oktober 2023.