Viele spannende Denkanstöße gab mir der renommierte Soziologe und Migrationsexperte Kenan Güngör bei seinem Vortrag in Salzburg. Im Rahmen des Fachkräfteaustausches „All Equal – aber wie?“ sprach er zu: „Jugend und Jugendarbeit in migrationsgeprägten Gesellschaften“. Gleich zu Beginn seine Ermahnung: „Jeder Fingerzeig auf die Jugendlichen ist ein doppelter Fingerzeig auf uns!“ Warum? Weil sie sich die Welt nicht aussuchen, in die sie geboren werden. Sondern sie müssen versuchen sich einer Welt zurechtzufinden, die wir für sie geschaffen haben. Ein guter Hinweis für alle, die mit Jugendlichen arbeiten, finde ich.
Vielfalt versus Pluralisierung
Güngör spricht nicht von Vielfalt. Dieser Begriff lässt sofort an Migration denken und geht mit einer normativen politischen Grundhaltung einher. Er bevorzugt „Pluralisierung“, denn es ist abstrakter und neutraler als Vielfalt. Wann es in unserer Geschichte zu einer massiven Pluralisierung gekommen ist, war zur Zeit der Urbanisierung. Sie erforderte eine Ausdifferenzierung und Spezialisierung – und mit ihr eine Kultur des Umgangs mit Fremdheit. Durch die Zunahme der Verstädterung und die Industrialisierung bildeten sich Klassen und Schichtungen – aber damit einhergehend auch demokratische und gesellschaftliche Freiheiten. Durch Zuwanderung wurde die ethnische, soziale, sprachliche und religiöse Pluralität massiv erhöht.Doch nicht die Pluralität an sich ist das Problem, sondern die Kompatibilität mit Grundwerten und Normen. Grenzüberschreitungen fallen erst im Moment der Verfehlung auf, weil viele kulturelle Codes nicht klar sind.
Vorrecht versus Gast
Anhand einer kleinen Simulation (man setzt sich in der Pause einfach ungefragt auf den Sessel einer anderen Person) zeigte Güngör auf, wie schon in kleinsten Situationen (Vortrag) ein Vorrecht entsteht: Wer zuerst da war, markiert seinen Bereich und duldet keine Übertretungen. Ebenso gibt es das Grundkonzept des „Gastes“: Von ihm wird erwartet, sich dankbar und demütig ob er erhaltenen Gastfreundschaft zu verhalten. So entsteht von Vornherein ein Ungleichheitsverhältnis zwischen den „Etablierten“, die die Regeln machen, und den „Außenseitern“, von denen Demut erwartet wird. Der Konflikt setzt sich dann fort, wenn gleichheitsbezogene Rechte für die „Gäste“ gefordert werden, denn damit werden die Außenseiter aufgewertet und die Etablierten abgewertet. So nach dem Motto: „Wenn du Gleichheit forderst, nimmst du mir meine Vorrechte weg“. Ein spannender Gedanke!
Superdiversität in Jugendszenen
Abschließend gab Güngör Einblick in aktuelle Studien zur Jugend in unserer migrationsgeprägten Gesellschaft: In den migrantisch gemischten Jugendszenen herrscht „Superdiversität“, Verkehrssprache wird Deutsch. Durch die Digitalisierung sind die Gemeinschaftsstrukturen jedoch fluide. Die Jugendlichen switchen zwischen mehreren Bubbles, bleiben aber in ähnlichen sozial unterschichteten Niveaus, zwischen den Schichten besteht keine Mobilität. Was für die Zukunft der Jugendlichen entscheidend ist, ist nicht nur die soziale Lage, sondern auch die Perspektive. Die Unterschicht hat tendenziell die Perspektive hinauf, die Mittelschicht erlebt hingegen eine Perspektivenlosigkeit.
Diskriminierung von wem durch wen?
Migrantische Jugendlichen erfahren in Städten weniger Abwertung aufgrund ihrer Herkunft oder Religion, allerdings stehen speziell Mädchen unter stärkerem sozialen Druck. Im ländlichen Bereich gibt es zwar Diskriminierung, aber gleichzeitig auch viel Unterstützung. Am problematischsten sieht Güngör den „unerforschten, halb-urbanen Raum“ wie Speckgürtel um Städte, wo in den meisten Fällen die größte Diskriminierung passiert. Wobei er darauf hinweist, dass Diskriminierung nicht nur das Konzept der autochthonen Gesellschaft ist, sondern auch innerhalb von Migrantengruppen Machtgefälle bestehen und Minderheiten diskriminiert werden. Hat also in diesem Fall der herrschaftstheoretische Machtdiskurs ausgedient?
Online Jugendarbeit gefordert
Eine konkrete Empfehlung hat Güngör an die anwesenden Fachkräfte der Jugendarbeit: Er beobachtet in den Jugendszenen eine „flashmobartige Mobilisierung“ von digitalen und realen Räumen. Um hier also mitzukommen, muss man wissen, wer die Influencer sind, die mobilisieren. Und das geht nur über Online Jugendarbeit.
Food for thought
Alles in allem war es ein sehr aufschlussreicher, anregender Vormittag, der aber auch viele Fragen aufgeworfen hat. Leider blieb keine Zeit mehr für eine gemeinsame Diskussion mit dem Referenten. Doch die Teilnehmenden des Fachkräfte-Austausches nutzten die weiteren Tage für die Reflexion über verschiedene Rassismus-Ebenen, die Frage, ob gängige Vorurteile verstärkt wurden und wie koloniale Verhältnisse mit der These des Gastrechts zusammenpassen. Vielleicht ergibt sich ja eine Gelegenheit zur Fortsetzung der Diskussion…?