„Sungs Laden“ ist eine herzerwärmende Geschichte, die im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg spielt. Was sie für mich besonders lesenswert gemacht hat: Die Autorin, Karin Kalisa, ist Wissenschafterin und greift in ihrem 2015 erschienenen Roman eine eher unbekannte Seite europäischer Migrationsgeschichte auf – die der vietnamesischen Vertragsarbeiter:innen in der DDR.
Gastarbeit auf sozialistisch
1980 schloss die DDR ein Abkommen mit dem Vietnam zur „Übernahme von Vertragsarbeitern“, um dem Arbeitskräftemangel im Land entgegenzutreten. Ähnlich wie die Gastarbeiter:innen im Westen sollten sie nur befristet bleiben, lebten in prekären Verhältnissen und konnten bei Verstößen gegen die Regelungen (wie z.B. Schwangerschaft) schnell wieder zurückgeschickt werden. Ende 1989 stellten die ca. 60.000 Vietnames:innen die größte Ausländer:innen-Gruppe in der DDR dar. Nach dem Mauerfall blieben ca. 16.000 von ihnen in Deutschland. Erst 1997 erhielten sie ein Daueraufenthaltsrecht (sofern sie straffrei waren und eine Arbeit hatten), wie dieser aufschlussreiche Artikel der Heinrich-Böll-Stiftung ihre Geschichte zusammenfasst.
Sungs Laden
Die Handlung im Buch entspinnt sich als Familiengeschichte über drei Generationen: Hien und ihr Mann Gam, die beide in jungen Jahren in die DDR kommen und sogar bleiben dürfen, als sie ihren Sohn Sung erwarten. Sung, der in Berlin aufwächst, eigentlich Archäologie studiert und von einem Tag auf den anderen den Laden seines Vaters übernimmt, als dieser bei einem Arbeitsunfall tödlich verunglückt. Mit seiner Frau May bekommt er zwei Kinder, und die Ereignisse nehmen ihren Lauf, als der ältere Sohn Minh in der Schule ein „Kulturgut aus Vietnam“ präsentieren soll. Denn Oma Hien, die Enkelin eines traditionellen vietnamesischen Puppenspielers, packt ihre von ihrem Opa geerbte, aus Vietnam mitgebrachte Puppe aus und erobert damit die Herzen der Schule und des Stadtviertels.
Von Raumnot bis Multikulti-Aufbruchsstimmung
Mehrere Lebenswelten treffen aufeinander und verknüpfen sich: Minhs Kunstlehrerin, die aktionistisch gegen die Raumnot in der Schule vorgeht – mit vietnamesischen Puppen. Gams (und später Sungs) Laden als Ort der Begegnung mit Hien als Integrationsfigur und Vermittlerin zwischen Vietnames:innen und Deutschen. Ein Industriekletter-Trupp, der mit Hilfe eines vietnamesischen Jugendlichen da und dort guerillamäßig „Affenbrücken“ aus Bambus zwischen Gebäuden errichtet und genauso schnell wieder verschwinden lässt. Ein japanisches Künstler-Pärchen, das die entscheidende Initialzündung zum krönenden Abschluss gibt. Mehr sei hier nicht verraten.
Feinfühlig, menschlich und mit einem Augenzwinkern
Karin Kalisa gelingt es einerseits, die individuellen Geschichten der (zum Teil kriegstraumatisierten) Vietnames:innen feinfühlig und mit viel Empathie darzustellen. Andererseits erfährt man beim Lesen so nebenbei viel Interessantes über die Tradition des vietnamesischen Wasserpuppenspiels. Die eigentliche sympathische Stärke dieses Romans finde ich aber, dass er die Wandlung des Prenzlauer Bergs, die gegenseitige Beeinflussung und Bereicherung der Kulturen, die vielen gemeinschaftlichen Initiativen, die entstehen, aber auch die etwas anarchistische Umbruchszeit nach dem Mauerfall spannend, humorvoll und ideenreich schildert. So bleibt einem nach dem Lesen ein Lächeln im Gesicht und man sehnt sich nach mehr solchen positiven „Integrations“geschichten.