Zwei Schriftsteller, ein Fotograf, Bilder eines aufgelassenen Flüchtlingscamps. Vladimir Vertlib und Jad Turjman teilten bei der Finissage von Michael Hartls Ausstellung „Einlass“ persönliche Erinnerungen als Geflüchtete und Flüchtlingshelfer. Die VielfaltsAgentin moderierte das Gespräch.
Vom Einlass zum Auslass – und andere Absurditäten
Vladimir Vertlib half 2015/16 fast rund um die Uhr als Freiwilliger im ASFINAG Camp mit, Flüchtlinge zu versorgen und für den Grenzübertritt nach Deutschland vorzubereiten. Die Freiwilligen waren zur Stelle, bevor noch die offiziellen Hilfsstrukturen eingerichtet waren. Und rasch hatten sich logistische Abläufe samt speziellem Sprachgebrauch eingespielt: Von Gruppen, die „aufschlagen“, war da die Rede, und von „Paketen“, die man hinüberschickte zu den Deutschen. Diese Prozedur nannte man den „Auslass“.
Nicht nur das Ausstellungsbild der „Camp Rules“ mit fehlerhaften Englisch- und Arabisch-Übersetzungen erinnerte Vertlib an die Improvisationskunst in der damaligen Situation. Auch die Tatsache, dass die freiwilligen Flüchtlingshelfer zwar offiziell nicht da, aber dann doch unfallversichert waren; dass die Flüchtlinge zwar hierzulande registriert, aber dann offiziell erst in Deutschland „vom Himmel fielen“; dass keiner so richtig wusste, ob man sich als Helfer der Schlepperei schuldig machte sowie einige andere „österreichische Lösungen“ brachte Vertlib als Beispiele für die zahlreichen Notlösungen zur Bewältigung des humanitären Kraftakts.
Verdrängung versus Erinnerung
Jad Turjman, einige Monate zuvor selber erst als Flüchtling aus Syrien über die Balkanroute nach Österreich gekommen, versah als Einsatzkraft der Samariter zeitweise im Camp Asfinag seinen Dienst. Eine Tatsache, die er selber völlig vergessen – oder verdrängt – hatte, wie er bei der Finissage erstaunt bemerkte. Doch beim Betrachten der Fotografien kamen Erinnerungen an Menschen und Situationen auf: Die Mutter mit Kind, die verzweifelt ihren Mann samt zweiten Kind suchte, von denen sie auf der Flucht getrennt wurde. Und die dann kurzerhand in Privatinitiative aufs Geratewohl in ein Aufnahmelager nahe München gefahren wurde, wo sie die beiden tatsächlich fand. Oder der Abend, als er bei Dienstschluss von seiner österreichischen Freundin mit dem Auto abgeholt wurde und beim Verlassen des Camps das sonderbare Gefühl hatte, auf beide Seiten des Tores zu gehören.
Vertlib hingegen fühlte sich im Camp schlagartig an das Flüchtlings-Transitlager im niederösterreichischen Schloss Schönau erinnert, wo er als knapp Fünfjähriger mit seinen Eltern untergebracht war. Besonders den Blick der Mütter, eine Mischung aus „Wehmut, Angespanntheit, Erschöpfung und Resignation, erwartungsvoll und gleichzeitig in sich gekehrt“ kennt er nur zu gut von seiner eigenen Mutter während ihrer Emigrations-Odyssee 1971 von Leningrad nach Wien und über mehrere weitere Stationen dann wieder zurück nach Österreich. Der Schriftsteller hat seine Erlebnisse 2015/16 an der deutsch-österreichischen Grenze im Text „Auslass der Flüchtlinge“ geschildert, und sein letzter Roman „Viktor hilft“ handelt ebenso von einem freiwilligen Flüchtlingshelfer in Salzburg. Auch Turjman hat seine Fluchtgeschichte literarisch verarbeitet – im Buch „Wenn der Jasmin auswandert“.
Lost Place – Found Place?
Das Camp Asfinag ist im wahrsten Sinne des Wortes ein „lost place“, da die Gebäude im Frühjahr 2016 abgerissen wurden. Ist Salzburg für einige der Menschen, die damals gekommen sind, zum „found place“, zur neuen Heimat geworden? Turjman, inzwischen österreichischer Staatsbürger, sinnierte, ob nicht erst der Verlust der Heimat ein Heimatgefühl aufgekommen lässt. Denn obwohl er das Leben unter der Diktatur in Damaskus hasste und nur weg wollte, vermisste er Damaskus, sobald er in Österreich war. Überrascht war er von sich selbst, als er dann bei seinem ersten Auslands-Urlaub Salzburg vermisste.
Im Gegensatz zu Jad Turjman habe er selbst gar keine richtige Heimat, meinte Vladimir Vertlib zu dieser Frage. Als Kind habe er zu kurz in Russland gelebt, um sich dort verwurzelt zu fühlen. Und auch als Jugendlicher war sein Leben von Ortswechseln geprägt, sodass er sich überall und nirgends heimisch fühlt – und trotzdem oft das Gefühl hatte, nicht dahin zu gehören, wo er war.
Finissage – doch Forsetzung folgt!
Fotograf Michael Hartl zeigte sich beeindruckt von den vielen Erinnerungen und Gedanken, die seine Fotos bei den beiden Autoren hervorriefen. Er war selbst 2015 nicht vor Ort, sondern hat das Gelände erst kurz vor dem Abriss besucht. Dadurch konnte er auch eine gewisse Distanz wahren, so der Künstler. Nach und nach wurde ihm jedoch bewusst, wie sehr seine Bilder als Projektionsfläche für unzählige persönliche Geschichten, Geschehnisse und Schicksale dienen können. Diesen Aspekt möchte er gerne für ein Folgeprojekt im Herbst 2021 nutzen – die VielfaltsAgentin wird berichten!